Drees & Sommer Immobilienkolumne – Stresstest fürs Stromnetz

Ohne Fehler selten eine Erkenntnis. Wie das europäische Stromsystem als ein hochkomplexes Geflecht funktioniert und worin genau die Herausforderungen der Energiewende für die Stromnetze liegen, das lässt sich anhand einer kürzlich aufgetretenen Panne besonders gut nachvollziehen.

Im Januar sorgte ein Beinahe-Blackout für Schlagzeilen. Der Ausfall eines kleinen Umspannwerks in Kroatien hätte um ein Haar fast das gesamte europäische Stromnetz lahmgelegt. Um die darauffolgenden Kettenreaktionen zu verstehen, hilft es, sich mit den wesentlichen Voraussetzungen für stabile Stromnetze zu beschäftigen. Dazu zählen die Frequenz, die Grundlast sowie das Gleichgewicht zwischen Stromerzeugung und -abnahme. Noch tragen Großkraftwerke dazu bei, all das zu gewährleisten. Doch das ändert sich mit zunehmendem Gewicht der Erneuerbaren Energien und der stetig steigenden dezentralen Erzeugung von Strom.

Frequenz: Alle müssen im Takt bleiben

50 Hertz müssen es sein, so lautet das Frequenz-Gebot unseres Stromnetzes. Ist die Frequenz niedriger, fehlt Strom im Netz – steigt sie zu sehr an, gibt es zu viel. Wenn das passiert, gerät das eng miteinander verwobene, europäische Netz erheblich aus dem Takt. Am Tag des Beinahe-Blackouts führte ein Stromüberangebot Südosteuropas dazu, dass ein Schutzmechanismus Teile einer kroatischen Umspann-Anlage abschaltete. Als Folge teilte sich das europäische Stromnetz in weniger als einer Minute unbeabsichtigt in zwei Gebiete auf: den Nordwesten, dem Erzeugungsleistung fehlte, und den Südosten, in dem ein entsprechender Überschuss bestand. In Frankreich und Italien mussten Großverbraucher ihre Abnahme drosseln. Und Österreichs Energieversorger aktivierten große Mengen Wasserkraft, um das unerwartete Stromdefizit auszugleichen. Dass die europäischen Netzbetreiber so derart schnell und koordiniert reagierten, sorgte binnen einer Stunde dafür, den Normalbetrieb im Netz wiederherzustellen.

Mechanismus mit System – die Regelenergie

Rund um die Uhr stellt nämlich ein klug konzipierter Angebot-Nachfrage-Mechanismus sicher, die Netzfrequenz bei 50 Hertz stabil zu halten. Einige Stromproduzenten, aber auch Stromverbraucher und Stromspeicher halten sich bereit, auf Abruf in kürzester Zeit sogenannte Regelenergie zur Verfügung zu stellen oder sie zu beziehen. In Deutschland sind vier Übertragungsnetzbetreiber für die Übertragungsnetze, die Netzfrequenzhaltung und das Management der Regelenergie zuständig: 50 Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW. Sie schreiben in jeweils festgelegten Gebieten, sogenannten Regelzonen, für jede Viertelstunde des folgenden Tages die benötigte Regelleistung verbindlich aus. Was von den europäischen Netzbetreibern nun Anfang Januar buchstäblich glimpflich geregelt wurde, führte dennoch zu intensiven Kontroversen zum Thema Versorgungssicherheit: Noch werden nicht allzu große Frequenzschwankungen relativ unkompliziert von Kohle- und Kernkraftwerken ausgeglichen. Vereinfacht dargestellt: Wird zu viel Strom ins Netz eingespeist, drehen sich ihre Generatoren langsamer und produzieren weniger Strom, was auch eine erhöhte Frequenz reduziert. Umgekehrt funktioniert der Effekt bei einem Strommangel. So sind in Deutschland 750 Megawatt für die sogenannte Primärregelung, die oberste Stufe der Frequenzsicherung nötig. Damit ist die innerhalb von Sekunden aktivierbare Regelenergie gemeint. Das entspricht etwa grob der Hälfte der Leistung eines Großkraftwerks. Bei Wegfall von Kernkraft und Kohle gelten vor allem Gasmotoren und -turbinen als eine Alternative. Mittel- bis langfristig könnten auch immense Stromspeicher in Form von Batterien in Frage kommen.

Grüne Grundlast?

Eng mit der stabilen Frequenz von 50 Hertz verknüpft ist das Thema Grundlast. Damit wird eine Art Mindestmenge an Strom bezeichnet, die immer im Netz verfügbar sein muss – am verbrauchsintensiven Tag genauso wie in der zumeist geruhsamen Nacht. Es handelt sich also um die Last an Leistung, die keinesfalls im Verlauf eines Tages unterschritten werden darf. Derzeit benötigt Deutschland etwa 40 Gigawatt Leistung an Grundlast pro Tag. Gehen nun wie geplant weitere Kraftwerke vom deutschen Netz, besteht die Befürchtung, dass sich mit zunehmender Abhängigkeit von Erneuerbaren Energien das Blackout-Risiko erhöht. Vor allem, wenn es jahreszeitenbedingt zu sogenannten Dunkelflauten kommt, also über mehrere Tage hinweg sehr wenig Strom aus Wind- und Solarenergie erzeugt wird. Das kommt nicht allzu häufig vor, ist aber in bestimmten Perioden schon aufgetreten.

Digital und dezentral ins Gleichgewicht

Mehrere Ansätze werden derzeit diskutiert, wie sich die Grundlast auch dann sichern lässt, wenn Erneuerbare Energien einige Tage in Folge schwächeln. Manche Kohle- zu Gaskraftwerken umzurüsten, könnte ein Teil der Lösung sein. Klimafreundlich ist die Alternative Gas dann, wenn in diesen Kraftwerken in der Zukunft der sogenannte grüne Wasserstoff statt fossilem Erdgas zum Einsatz kommt. Mit dem Ausbau von Smart Grids, auch intelligente Netze genannt, ist künftig auch die Erwartung verbunden, Stromaufnahme und -abnahme automatisiert im Gleichgewicht zu halten. Dahinter steckt, dass digital und dezentral miteinander vernetzte Erzeugungsanlagen, Speicher und Verbraucher anhand intelligenter Messysteme miteinander kommunizieren und zunehmend Künstliche Intelligenz ihren Bedarf sowie die Anforderungen des Energiesystems optimal miteinander in Einklang bringt. Das könnte auch die Grundlast des Energiesystems senken.

Strom stoppt nicht an der Grenze

Doch auch, wenn ein Energiesystem stärker auf Digitalisierung und Dezentralität setzt, müssen die Netze nicht nur gewartet, optimiert und verstärkt, sondern künftig auch massiv europaweit ausgebaut werden. Der Stromfluss von den Erzeugungsanlagen bis in die Steckdosen führt in Europa vom überregionalen Übertragungsnetz über die nachgelagerten Verteilnetze bis zu den lokalen Niederspannungsnetzen. Der Überstromschutz der kroatische Umspannanlage führte im südosteuropäischen Netz zu Stromüberschuss, einer Überlastung der Leitungen und damit über Kroatien hinaus zu einigen Stromausfällen. Innerhalb von 43 Sekunden überlasteten 14 Leitungen in Kroatien, Serbien und Rumänien. Das zeigt, wie eng verwoben unsere europäischen Stromnetze sind. Ein Überschuss an Strom, der ausweicht, bringt die Leitungen an ihre Grenzen. An den nationalen Grenzen stoppt er jedenfalls nicht.

Höchstspannung: Von Nord nach Süd

Hinzu kommt, dass sich die Zentren der Stromproduktion verlagern. Während zunehmend Kraftwerke in absehbarer Zukunft im Süden Deutschlands abgeschaltet werden, wird der Ausbau der Windenergie im Norden, besonders vor den Küsten im Meer, weiter voranschreiten. Der Anteil an regenerativ erzeugtem Strom in Deutschland beträgt derzeit etwas mehr als 50 Prozent, wovon allein Windkraft 27 Prozent ausmacht. Dafür ist der Ausbau des Höchstspannungsnetzes vom windintensiven Norden in den industriereichen Süden erforderlich. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Höchstspannungs-Gleichstrom-Übertragungsleitungen (HGÜ-Leitungen), die sogenannten Stromautobahnen wie SuedLink oder SuedOstLink. Und nicht zuletzt wird bundesweit durch die zunehmende Elektrifizierung der Stromverbrauch enorm steigen, vor allem, weil mehr Autos und Heizungen elektrisch betrieben werden statt mit Öl oder Gas.

Auf Draht: Die Bauabteilung auf Zeit

Damit dieser immense Ausbau gelingt, bedarf es eines engen Zusammenspiels aller Beteiligten: Den Netzbetreibern aller Ebenen, den Planern, den Stromerzeugern, der Bundesnetzagentur und vor allem den transparenten Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Ob Machbarkeitsstudien, Unterstützung in der Kommunikation von Netzausbaumaßnahmen, den Auf- und Ausbau von Stromnetzen an Land oder für Offshore-Windparks bis zum Abschluss der Genehmigungsplanung für Netzausbauprojekte: Drees & Sommer begleitet seit den frühen Tagen der Energiewende die Netzausbauprojekte vieler Netzbetreiber. Wenn erforderlich, auch in der Wahrnehmung einer Bauherrenfunktion. Zu erheblichen Zeit- und Kosteneinsparungen sowie zu einer hohen Prozessqualität sorgt bei der Bauausführung beispielsweise das konsequente Anwenden von Lean Construction Management. Was die vorangestellte Phase der Planung betrifft, bewährt sich immer mehr die digitale Methode Building Information Modeling (BIM), die sehr früh mithilfe des digitalen Zwillings des Bauvorhabens Planungsfehler erkennt, Abläufe simuliert und Widersprüche aufdeckt. Das vermeidet unnötige Bau- und Betriebskosten.

Unfreiwilligen Stresstest bestanden

Auch wenn Europa nur knapp einem flächendeckenden Stromausfall entging, haben die Netzbetreiber den, wenn auch unfreiwilligen, Stresstest bestanden. Für was er sicher gut war: Seither wird auch in der Öffentlichkeit wieder vermehrt über die Anforderungen der Energiewende und die Stabilität der Stromversorgung diskutiert. Durch den umfassenden Umbau unseres Energiesystems wird es künftig zwar komplizierter, die sensible Infrastruktur zu managen, aber für das Ziel der Klimaneutralität 2050 ist dies allemal lohnenswert.

Diese Kolumne ist Teil des von Drees & Sommer veröffentlichten Dossiers „Aus sicherer Quelle – Sonne oder Wind? Wärme oder Wasserstoff? Erneuerbare Energie hat viele Gesichter“. Hier geht es zum Download des gesamten Energie-Dossiers.

Über die Autoren:

 

Als Partner der Drees & Sommer SE verantwortet Christopher Vagn Philipsen die Projekte im Bereich Energieerzeugung, -verteilung und -speicherung. Zu Schwerpunktthemen seiner Arbeit gehören insbesondere Erneuerbare Energien, Offshore-Windenergie und der Stromnetzbau. Unter anderem unterstützte er mit seinem Team die Netzanschlüsse von Offshore-Windparks in der Deutschen Nordsee. Nach seinem verfahrenstechnischen Studium an der Universität Stuttgart trat der Diplom-Ingenieur 1987 zunächst als Projektleiter in ein Stuttgarter Ingenieurunternehmen, bevor er 1997 zu Drees & Sommer kam und dort Leistungsbilder im Bereich der Energiewirtschaft auf- und ausbaute. Als „Head of Energy“ bei Drees & Sommer koordiniert Henrik Töpelt alle Tätigkeiten für Kunden der Energiewirtschaft. Zu Schwerpunktthemen der Arbeit des Diplom-Ingenieurs gehören insbesondere der Stromnetzbau, die Umnutzung von Kraftwerksstandorten, der Rückbau von Kraftwerken oder die allgemeine Beratung von Energieversorgungsunternehmen. Nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens mit dem Schwerpunkt Energiesysteme/ Energiewirtschaft an der Technischen Universität Berlin arbeitete er zunächst bei einem Ingenieurunternehmen in Stuttgart und anschließend bei einem internationalen Planungs- und Beratungsunternehmen. Im Sommer 2020 erfolgte schließlich der Wechsel zu Drees & Sommer, wo er seither alle Energiethemen verantwortet.

 

Drees & Sommer: Innovativer Partner für Beraten, Planen, Bauen und Betreiben.

Als führendes europäisches Beratungs-, Planungs- und Projektmanagementunternehmen begleitet Drees & Sommer private und öffentliche Bauherren sowie Investoren seit 50 Jahren in allen Fragen rund um Immobilien und Infrastruktur – analog und digital. Durch zukunftsweisende Beratung bietet das Unternehmen Lösungen für erfolgreiche Gebäude, renditestarke Portfolios, leistungsfähige Infrastruktur und lebenswerte Städte an. In interdisziplinären Teams unterstützen die rund 4.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an weltweit 46 Standorten Auftraggeber unterschiedlichster Branchen. Alle Leistungen erbringt das partnergeführte Unternehmen unter der Prämisse, Ökonomie und Ökologie zu vereinen. Diese ganzheitliche Herangehensweise heißt bei Drees & Sommer „the blue way“.

Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.

Bildquellen: canadastock / Shutterstock.com